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Mal ein paar Thesen statt Fakten... (Corona)

Ulrich, Mittwoch, 27.01.2021, 12:41 (vor 1178 Tagen) @ Jurist81

1. Die Schulschließungen führen zu erheblichen negativen (psychologischen) Effekten bei Kindern und Eltern.

Das ist unbestritten. Aber was wäre die Alternative? Zustände wie sie sie die Bevölkerung im letzten Frühjahr in Bergamo, in Madrid, in New York, etc. erlebt hat, dürften noch traumatisierender sein.

Die aktuellen Maßnahmen werden ja nicht aus bösem Willen angeordnet, sondern weil sie unumgänglich sind. Bisher sind wir in Deutschland im Vergleich zu vielen Nachbarstaaten recht gut durch die Pandemie gekommen. Das ist aber alles andere als ein Selbstläufer. gerade angesichts der neu aufgetretenen Virus-Varianten, die sich zunehmend auch bei uns ausbreiten.


2. Die wirtschaftlichen Nachteile der Schulschließungen begleiten uns noch Jahrzehnte.

Das wird immer wieder behauptet. Allerdings scheint mir die wissenschaftliche Grundlage ausgesprochen dünn zu sein. Es gab in Deutschland in den letzten Jahrzehnten immer "schulmüde" Schülerinnen und Schüler. Und die sind trotz aufwändiger Maßnahmen nur sehr schwer zu motivieren. Hohe Fehlzeiten, Abgang ohne irgend einen Abschluss. Natürlich hat diese Personengruppe kaum eine Perspektive. Kein Schulabschluss, keine Berufsausbildung, Jobs im Niedriglohnbereich.

Jetzt ist die Situation eine ganz andere. Betroffen sind alle Schüler. Natürlich leiden diejenigen deutlich mehr, die aus den sogenannten "bildungsfernen" Elternhäusern kommen. Aber auch da trifft es eine große Gruppe. Ein Vergleich mit der deutlich kleineren Zahl der Schulabbrecher in früheren Jahren ist meiner Meinung nach nicht angebracht.

Um einmal ein extremes Beispiel zu nennen: Mein Vater war 1935 geboren. Er hat eine sogenannte "Bauerschaftsschule" besucht, in der alle Jahrgänge gemeinsam unterrichtet wurden. 1947 musste er nach dem sechsten oder spätestens im siebten Schuljahr die Schule beenden. Mein Großvater kam schwer geschädigt aus dem Krieg zurück. Die Familie wohnte in einem Kotten, statt Miete musste man beim Bauern Arbeit leisten. Glücklicherweise hat mein Vater trotzdem den Volksschulabschluss bekommen, die eigentlich erst nach acht Jahren erreicht wird. Trotz aller Widerstände hat er dann seinen Weg gemacht. Genau so wie seine Geschwister.

Aktuell gibt es ein anderes Problem. Kaum jemand im Abschlussjahrgang bekommt eine Ausbildungsstelle, die Unternehmungen warten kollektiv ab. Und auch Praktikumsstellen gibt es nicht. Ggf. muss man sogar überlegen, auf freiwilliger Basis ein Zusatzjahr anzubieten.

Übrigens hat man vor einigen Jahren fast(?) überall in Deutschland bei den Gymnasien die Schulzeit um ein Jahr gekürzt. Von katastrophalen Auswirkungen auf die Schüler ist nichts bekannt.

3. Trotz Schulschließungen und weiterer Einschränkungen sinkt die Zahl der Neuinfektionen nur langsam.

Die Zahlen könnten noch schneller sinken. Das dürfte u.a. daran liegen, dass aktuell weniger Home Office gemacht wird als im letzten Frühjahr. Macht man die Schulen aber zu früh wieder auf, werden sie unter Umständen gar nicht mehr sinken, siehe November letzten Jahres.


4. Kinder und deren Eltern machen einen viel geringeren Teil der Wahlberechtigten bei der nächsten Bundestagswahl aus als die Gruppe der Höhergefährdeten.

Das ist nun wirklich kein Argument. Problem ist, dass sich die Infektionen vor allem "unter der Oberfläche" ausbreiten, und dann tauchen sie irgendwo wie aus dem Nichts auf, vor allem bei Eltern, Großeltern, etc.


5. Eine Abkehr von dem eingeschlagenen Weg würde nicht als Stärke sondern als Schwäche betrachtet werden.

Vom vereinbarten Weg kehren viele Länder ab. Abgemacht war, dass auch die Kitas und Grundschulen bis zum 14.02. weitgehend geschlossen bleiben. Auch deshalb agierte Kretschmann bei Lanz gradezu cholerisch. Argumente hat er durch Lautstärke ersetzt.


Nachdem ich heute nach überstandener COVID-19-infektion den ersten Tag wieder im Büro bin und meine Kinder zuhause von meiner Schwiegermutter betreut werden, habe ich natürlich einen höchst subjektiven Blick auf die Situation. Ich verkenne nicht, dass wir eine Überlastung unseres Gesundheitssystems verhindern müssen und der Schutz des Lebens höchste Priorität genießt und genießen muss.

Gerade deswegen ist es wichtig, die Entwicklung und die getroffenen Maßnahmen kritisch zu reflektieren statt aus Angst (?), Sturrheit (?), einseitigen Beratern (?) oder Wahlinteressen (?) an dem eingeschlagenen Weg festzuhalten.

Das Problem ist, ein Großteil der Bildungspolitikerinnen und -politiker den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion konsequent ignorieren, weil sie an ihren Meinungen festhalten wollen.


Was wir sehen, ist ein großflächiges vollkommenes Versagen bei der Impfstrategie, ein zögerliches Handeln im Spätsommer gefolgt von halbherzigen Ansätzen im Herbst und rigideren Maßnahmen im Winter. Ob es da ein besseres Vorgehen gegeben hätte, ist unerheblich. Entscheidend ist doch vielmehr, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann, sehr wohl aber die Zukunft beeinflussen und gestalten kann. Und da habe ich das Gefühl, dass die Komplexität der Situation derzeit zu einer Art Schockstarre führt.

Um aus diesem Teufelskreis herauszubrechen, muss man Risiken eingehen, Dinge ausprobieren, Fehler eingestehen, Fehlentwicklungen korrigieren und flexibel sein. Und das vermisse ich zur Zeit am meisten.

Gerade angesichts der neuen, sich deutlich aggressiver verbreitenden Virus-Varianten wäre das "Russisches Roulette" wir wissen nicht mit Sicherheit, ob Kugeln in einem Teil der Trommeln sind, aber wir müssen aktuell davon ausgehen.


Ich wünsche mir keine "Heute Hü und morgen Hott"-Strategie. Aber ein stures "Weiter so" erscheint mir wenig erfolgsversprechend, weil die Unterstützung der Bevölkerung verloren geht, die Schäden immer größer werden und viele sich im Stich gelassen fühlen. Und gerade diese sind es, die den Laden wieder aufbauen müssen, wenn wir - wann immer das auch sein mag - die Krise gemeistert haben.

Die Strategie war weitgehende Schließung auch der Kindertagesstätten und Schulen bis zum 14.02. Um dann danach sorgfältig zu prüfen, welche Lockerungen möglich sind. Aber schon zum Zeitpunkt, an dem Angela Merkel noch die getroffenen Vereinbarungen verkündet wurden, wurden sie u.a. vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten und seiner Schulministerin bereits gebrochen.


Und da muss man jetzt schon einen vernünftigen Weg finden, diese mitzunehmen und zu motivieren. Der Staat gibt irrsinnig viel Geld aus, um die Folgen dieser Krise hinauszuzögern. Trotzdem werden viele Unternehmen pleite gehen, viele Arbeitsplätze werden unwiderbringlich verloren gehen. Ganze Familien werden die Folgen der Pandemie auf Jahrzehnte spüren. Und da muss man aufpassen, dass nicht das Narrativ aufkommt:

"Wir haben das Leben tausender um Monate verlängert, um das Leben von Millionen für Jahre zu verschlechtern".

Das können wir aber nur schaffen, wenn wir diese Leute JETZT mitnehmen und die Kommunikation JETZT verbessern. Und das ist die zweite Kompenente, die mir gerade komplett fehlt. Es ist bezeichnend, dass man öffentlich lautstark darüber sinniert, keine Nach-Krisen-Strategie zu haben, wenn bereits jetzt schon wichtige Schritte unternommen werden müssen, die Zeit nach der Krise zu gestalten, ohne dass uns große gesellschaftliche Verwerfungen drohen.

Ich will keine amerikanischen Verhältnisse sehen, will nicht dass die Spinner von der AfD oder der Linken großen Zulauf bekommen, weil die Mitte dieser Herausforderung nicht gewachsen war. Und gerade deswegen muss die Mitte jetzt mehr wagen und die Menschen mehr mitnehmen.

Vernünftig ist es vor allem, an aus gutem Grund getroffenen Vereinbarungen zunächst einmal festzuhalten. Statt dessen wurden sie bereits gebrochen, noch bevor die Unterschriften getroffen waren.


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