schwatzgelb.de das Fanzine rund um Borussia Dortmund
A- A+
schwatzgelb.de das Fanzine rund um Borussia Dortmund
Startseite | FAQ | schwatzgelb.de unterstützen
Login | Registrieren

Impfen beim Hausarzt – aus der Sicht eines Hausarztes… (Corona)

Sebi, Dülmen / Münster, Donnerstag, 20.05.2021, 23:22 (vor 1072 Tagen) @ Freyr

Als Hausarztpraxis, die zunächst mit großer Begeisterung das Impfen begonnen hat und möglichst viele der eigenen Patienten impfen wolte, muss ich nach einigen Wochen des Impfens feststellen, dass ziemliches Unheil über uns gekommen ist. Wir sind permanent weit über den Rand der Belastbarkeit hinaus und machen uns gerade regelrecht kaputt.


1. Fehlende Transparenz

Pro Arzt konnten wir zu Beginn pro Woche je 6 Vials Biontech, also 36 Impfdosen, bestellen. Wie viele wir davon tatsächlich bekommen, erfahren wir freitags. Biontech musste bekanntlich (bis zu Beginn dieser Woche) nach 5 Tagen verimpft sein. Nach dem sehr aufwändigen Erstellen von Prio-Listen rufen wir freitags und samstags die Patienten an, um die Termine zu besetzen. Es ist unfassbar, wie viele vergebliche Anrufe wir auf Festnetz und Handy unternehmen mussten, bis wir überhaupt ausreichend Personen erreicht haben. In der 3. Woche der Impfkampagne bekamen wir 12(!) Impfdosen Biontech für die ganze Praxis. Daher haben wir fortan jedes Mal die maximale Menge angefordert. Im Schnitt kamen 48 Biontech-Impfungen für die ganze Praxis pro Woche. Vorletzte Woche waren es plötzlich 144. Das gesamte Wochenende haben wir uns die Finger wund gewählt, um alle Plätze zu besetzen. Ein enormer Kraftakt. Zwei Personen sind ohne Abmeldung nicht erschienen. Geimpft wurde mittwochs von 8:30 bis 16:30 Uhr, ohne auch nur eine Sekunde Pause zu machen, von meiner 66-jährigen Mutter.


2. Vergütung

Wir bekommen 20 Euro pro Impfling. Aufklärung, für die überwiegend älteren Semester stellen wir natürlich die Aufklärungsunterlagen bereit, was Tausende von Seiten Papier bedeutet, impfen und alle Personen mindestens noch 15 Minuten anschließend nachbeobachten.

Wir haben extra Räumlichkeiten angemietet, in denen wir an zwei Tagen in der Woche impfen, da wir in den Praxisräumen nicht so viele Menschen nachbeobachten und zusätzlich die Patienten behandeln können.

Eine unserer Mitarbeiterinnen, die bisher nur 8 Stunden pro Woche(!) gearbeitet hat, arbeitet nun von montags bis freitags mindestens 8 Stunden pro Tag(!) und an den Wochenenden sind auch bereits sehr viele Stunden zusammen gekommen. Sie macht eine grandiose Arbeit, denn durch das direkte Planen der Termine für die Zweitimpfungen etc. ist es ein extremer logistischer Aufwand für uns. Was sie in den letzten Wochen geleistet hat, dafür habe ich gar keine Worte und wir können uns gar nicht genug bei ihr bedanken. Der Arzt, der impft, fehlt in der Praxis und kann dort keine Patienten behandeln. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht fallen auch diese Einnahmen weg.

Ich habe es nicht im Detail nachgerechnet, aber wir werden bis zum Ende der Impfkampagne sicherlich eine relevante Summe draufzahlen, wenn wir weiter so engagiert impfen.


3. Telefonterror

Was sich jeden Tag von morgens bis abends am Telefon abspielt, ist mit Worten ebenfalls nicht zu beschreiben. Mindestens 75% der Anrufe betreffen Impfanfragen, wobei das Telefon nicht eine Sekunde mehr stillsteht. Darunter auch viele Patienten, die nicht in unserer Praxis sind. „Nach der Impfung würde ich dann aber gerne in Ihre Praxis wechseln.“ Es gibt auch höfliche Nachfragen, aber zumeist werden unsere Mitarbeiterinnen in lange Diskussionen verwickelt und Verständnis wird ihnen kaum entgegengebracht, da in den Medien oftmals ein völlig falsches Bild der Situation vermittelt wird. Sie sind stets gezwungen, sich für alles Mögliche zu rechtfertigen, was weit außerhalb unserer Verantwortung liegt. Der Ton ist nicht selten aggressiv und teils unverschämt. Ich vermute, dass viele unserer älteren Patienten, die sich nicht per E-Mail melden können, uns an vielen Tagen nicht mehr erreichen können.

Die psychische Belastung für unsere Mitarbeiterinnen ist enorm und wir wissen bisher nicht, wie wir sie schützen sollen. Wie ich eingangs schrieb: Gerade machen wir uns schlicht kaputt.


4. Aufrechterhaltung der Patientenversorgung

Wir arbeiten in einem eher ländlichen Gebiet und machen daher jeden Tag mehrere Hausbesuche pro Arzt. Die kranken Patienten wollen weiter versorgt werden. Auch wir werden permanent in Diskussionen rund um das Impfthema verwickelt und investieren wie oben geschrieben insgesamt viel Zeit für die Impfkampagne. Wir stellen fest, dass eine qualitativ gute Versorgung der Patienten unter diesen Umständen wahnsinnig schwierig ist.


Ich verrate kein Geheimnis, dass der Biontech-Impfstoff aktuell abgesehen von den Zweitimpfungen fast komplett an die Impfzentren geht. Am Sonntag habe ich im Impfzentrum in Münster gearbeitet. Da war weitestgehend tote Hose. Meine dort mangels Impflingen geleistete Arbeit war das Gehalt nicht ansatzweise wert. Wie kann das sein? Wir haben Hunderte von Menschen auf der Warteliste und selbst sonntags ist das Impfzentrum dort bestenfalls zu 50% ausgelastet.

Eine 40-jährige Patienten von mir mit schwerem Asthma und Zustand nach einer Thrombose kann ich in der Praxis nicht impfen, weil die Praxen im Moment kein oder nur kaum Biontech für Erstimpfungen bekommen. Im Impfzentrum werden aber vollkommen gesunde 20-jährige mit lächerlichen Bescheinigungen vom Arbeitgeber geimpft.

Die Zahlen des Impffortschritts sind beachtlich, aber die Hausarztpraxen zahlen dafür einen hohen Preis. Natürlich habe ich mich mit Kollegen ausgetauscht und habe keine Rückmeldung bekommen, die positiver gewesen wäre.

Jeden, der das Impfen in der Praxis einstellt, kann ich vollkommen verstehen.


Antworten auf diesen Eintrag:



gesamter Thread:


1233934 Einträge in 13687 Threads, 13784 registrierte Benutzer Forumszeit: 27.04.2024, 08:29
RSS Einträge  RSS Threads | Kontakt | Impressum | Nutzungsbedingungen | Datenschutzerklärung | Forumsregeln