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Zeit - Droht jetzt die zweite Welle? (Corona)

Lutz09, Tor zum Sauerland, Donnerstag, 23.04.2020, 15:24 (vor 2072 Tagen) @ Ulrich

Gleichzeitig ist die Frau ist aber auch Wissenschaftsbloggerin. Und da haut sie nach einem Monat Pandemie ein Video raus, dass die bekanntesten Virologen nach Inhalt und Kommunikation bewertet, schriftliche Antworten nicht abwartet und hinten raus die Quintessenz hat: Mehr Wissenschaftler solllen sich zu Wort melden, aber wenn sie es nicht, nach ihrer Wertung richtig machen, dreht sie ein Video drüber.

War das Informativ? Ja.

War das unendlich seriös? Könnte man drüber streiten...


Ein Grenzfall. das ist natürlich schon ein Stück aus dem Fenster gelehnt die Leute zu einzuwerten. Andererseits sind die Bewertungen ja durchaus fundiert begründet und gäben den Leuten, die nicht so gut wegkommen eben auch die Möglichkeit sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen.

Für den Laien, der nicht so oft Wissenschaftler sprechen hört auf jeden Fall eine ganz interessante Einordnung.


Solche fundieten Einordnungen sind zudem durchaus Teil guter journalistischer Arbeit.


Zu fundierten Einordnungen habe ich vor ein paar Tagen etwas sehr Fundiertes gelesen:

"Viele Menschen verstehen nicht, dass echte Wissenschaft ist, einen bestimmten Wert zu finden, der „die Wahrheit“ abbildet. Und um diesen Wert schwanken momentan viele Vermutungen, Spekulationen und erste echte, aufschlussreiche Ergebnisse. Zum jetzigen Zeitpunkt darf und kann es kein definitives Richtig oder Falsch geben – wer so denkt, denkt eben gerade nicht wissenschaftlich.

Wie beim Thema Ernährung und Co. zeigt sich auch beim Thema Coronavirus: Es scheint nur noch „echte Wissenschaft“, evidence-based, zu geben und jene, die an Esoterik und das Alternative glauben oder gar "Leugner" sind.

Was ist eigentlich "evidence-based"?

Der Punkt ist nur: Evidence-based (nach David Sackett) bedeutet eben nicht, eine Datenlage derart aufzublähen, dass es nur eine Schlussfolgerung geben kann. Evidence-based stellt viel mehr jenen Menschen in den Vordergrund, der vor dem Hintergrund seiner fachlichen Expertise und auf Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Daten – auch wenn die Datenlage dünn ist – die besten Entscheidungen für den Patienten oder, in unserem Bereich, den Leser treffen muss.

Was wir aber stattdessen sehen: Viele sind einfach nicht gut darin, auf Grundlage einer vorhandenen, wenn auch spärlichen Datenmenge Schätzungen, s. g. Extrapolationen, abzugeben. Sie stützen sich stattdessen krampfhaft auf die wenigen Daten. Tatsache aber ist, dass eine Datenlage zumeist derart kontextabhängig ist, dass ein „Experte“ immer schätzen muss – man kann es auch so ausdrücken: Ein Wissenschaftler ohne Gespür für die Materie und ohne Fantasie, ist ein schlechter Wissenschaftler. An diesem Punkt trennt sich oft die Spreu vom Weizen.

Und genau das ist das, was wir derzeit in der Coronakrise erleben. Die Datenlage ist (noch) dünn, und eine Vielzahl an verschiedenen Wissenschaftlern mit unterschiedlichsten Hintergründen und Kompetenzen müssen extrapolieren. Nicht mehr, nicht weniger. Und da gibt es dann jene, die sehr konservativ, ängstlich schätzen, und andere, die ein bisschen offensiver und mutiger schätzen. Manche schätzen ein bisschen globklotzig, andere haben offensichtlich mehr Gespür für das, was passiert. Und viele überstrapazieren ihren eigenen Kompetenzbereich.

Momentan befinden wir uns in der Phase einer Wahrheitsfindung, und alles, was wir jetzt herausfinden, sehen oder fühlen, schwankt – mal weit entfernt, mal nah – um einen Wert, der die Wahrheit abbildet. Das ist ein wissenschaftliches Vorgehen.

Es darf und muss verschiedene Strömungen geben

Was jetzt in der allgemeinen Verunsicherung zudem passiert, ist – an das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman angelehnt –, dass manche Menschen im System 1 des Denkens hängen bleiben, also konstant emotionalisiert sind, und andere Menschen schneller in das System 2 des Denkens kommen, in der sie rationaler und klarer sehen.

Alleine aus diesen beiden Faktoren, also aus der Vielzahl an „Strömungen“ mit Blick auf die Wahrheitsfindung und den beiden unterschiedlich genutzten Denksystemen, resultieren viele (soziale) Phänomene, die man jetzt erleben kann. Ein Phänomen ist, dass es plötzlich unterschiedliche Realitäten gibt. Es scheint plötzlich ein „Normal“, also eine dominante, vorherrschende Realität zu geben, und eine, sagen wir, „alternative Realität“. Doch wie kann sowas sein? Wie kann es sein, dass es einen Meinungsschwerpunkt gibt, den man als Verfasser von Texten durchaus spüren kann, obwohl die tatsächliche Datenlage eher Meinungspluralität fördern müsste?

Kognitive Verzerrungen: Wir müssen vorsichtig beim Bewerten sein

Stattdessen passieren andere Sachen, die vor allem aus einer selektiven Wahrnehmung resultieren. In der Wissenschaft hat das einen Namen – so eine selektive Vorfilterung nennt man Bias, kognitive Verzerrungen.

Bias finden wir momentan bei den Daten selbst: Viren, auch wenn sie eher harmlos sind, schlagen vor allem bei vulnerablen, sprich besonders anfälligen Personengruppen rasch und heftig ein, weswegen die Fallsterblichkeit (case fatality rate) zu Beginn einer Epidemie dramatisch überschätzt wird. Statistisch betrachtet ist das dann eine Form von selection bias, weil das Virus auf diese Weise die Statistik verzerrt.

Auch findet man momentan häufig ein observer bias. Wir kennen die Umstände nicht, warum das Virus beispielsweise in New York oder Bergamo so eingeschlagen ist. Wir sehen nur, dass viele Menschen gestorben sind. Daraus schließen wir pauschalisierend, dass es „schlimm“ ist und auch uns so schlimm trifft. Dabei sehen wir schon mal nicht, ob es „an“ oder „mit“ war, wir sehen die vermeintlich kleinen, wichtigen Details nicht – etwa den sozialen Umgang, demographische Situationen, den Gesundheitsstatus der Bevölkerung, ggf. Fehler im Umgang mit dem Virus selbst, und andere Voraussetzung, die es zum adäquaten Bewerten einer Situation braucht. Tatsächlich ist es so, dass viele Menschen sich die Mühe dieses Aufdröselns auch gar nicht machen wollen.

Was unsere eigene Wahrnehmung angeht, unterliegen wir aktuell vor allem drei Bias:
Confirmation bias: Wir lesen und sehen nur das, was wir glauben bzw. verstehen.
Availability bias: Die meisten Menschen lesen nur das, was Medien ihnen vorgefertigt präsentieren.
Authority bias: Wir suchen uns einen Virologen, der uns besonders gefällt, und schenken ihm unser Vertrauen.
Und wem es noch nicht aufgefallen ist: Die dominante, vorherrschende Meinung wurde in erster Linie deshalb so geformt, weil unsere komplette Informationslandschaft mit Blick auf die Faktenlage von Beginn an verzerrt war – es konnte wegen der mangelnden Datenlage auch gar nicht anders sein.

Auch eine Art von kognitiver Verzerrung ist, dass momentan alles ganz „besonders neu“ wirkt. Neues Virus, neue Erkrankung, immer neue Details, neue Horrormeldungen. Da ist plötzlich die Rede von Hirnentzündung, Arterienentzündungen ... und was es da sonst noch alles so gibt. Plötzlich soll dieses Virus sogar jungen Menschen, ganz unerkannt, also quasi nebenbei, schwere Lungenschäden machen. Gott sei Dank dröseln wir all die uns bekannten Krankheiten nicht derart auf, denn das würde vielen Leuten ganz extreme Ängste bescheren – und selbst, wenn es „nur“ das ist, was herkömmliche Viren in uns anrichten könnten. Alles ist abhängig von der Ausprägung einer Krankheit, und das ist wiederum abhängig von Bedingungen, die Wahrscheinlichkeiten formen. Ohne ein (statistisches) Bezugssystem, sind solche Detailanalysen mehr oder weniger wertlos.
Fakt ist: Derzeit erscheinen immer mehr Antikörper-Stichproben-Studien (Santa Clara, Los Angeles, Österreich, Schweiz, auch Deutschland etc.), die nahelegen, dass die Dunkelziffer der Infizierten um ein Vielfaches höher ist als die tatsächlich gemessene Infiziertenzahl. Dadurch sinkt die tatsächliche Fallsterblichkeit deutlich. Zudem ist das durchschnittliche Todesalter bisweilen sehr hoch – in Österreich beispielsweise übersteigt es die Lebenserwartung der Menschen dort. Das soll die Gefährlichkeit dieses Virus keinesfalls schmälern, aber es gibt zunehmend ein realistischeres Bild der tatsächlichen Lage. Wir brauchen konkrete Daten – keine Schreckenszenarien, Horrormeldungen, Spekulationen oder Modelle, die bisher nicht zutreffend waren.

Viele Meinungen sind (zu) stark eingefärbt

Problematisch ist oder war dabei nur, dass viele Menschen zwischendurch „vergessen“ haben, dass wir uns in einer Phase der Wahrheitsfindung befinden. Bis heute gibt es daher eine dominante Realität und eine andere, die zwar schleichend mehr Gewicht bekommt, aber trotzdem von vielen Menschen offen noch nicht akzeptiert wird. Mehr noch, man bekommt den Eindruck, dass viele Menschen harmlosere Varianten der ursprünglichen Annahmen gar nicht hören wollen, auch wenn vieles davon bereits revidiert ist.

In jedem Fall ist es skurril zu sehen, wie folgsam Menschen werden können, wenn sie emotionalisiert oder ängstlich sind – wie sie sich an den Ansichten ihrer Meinungsführer ergötzen und regelrecht nach Autorität lechzen. Da wird dann zum Beispiel ein Wissenschaftler zum Superstar, der die Groupies um sich schert, die andere Wissenschaftler diskreditieren, weil sie nicht auf einer Linie mit ihrem Lieblingswissenschaftler sind. Man würde es nicht glauben, wäre all das bei Twitter und Co. nicht bestens dokumentiert."

Kritisches Denken ist und bleibt wichtig!


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