schwatzgelb.de das Fanzine rund um Borussia Dortmund
A- A+
schwatzgelb.de das Fanzine rund um Borussia Dortmund
Startseite | FAQ | schwatzgelb.de unterstützen
Login | Registrieren

Sackgasse (Sonstiges)

HoschUn, Ort, Montag, 17.06.2019, 13:46 (vor 1776 Tagen) @ Blarry

Danke Dir, mein Lieber. Sprichst mir aus der Seele.

Zur Volkszählung 1910 lebten im damaligen Deutschland rund 65 Millionen Menschen, deren überwältigende Mehrheit vielleicht zweimal pro Woche Fleisch konsumierte. Der Sonntagsbraten galt als Höhepunkt der Woche, und wenn bei den Bekannten auf dem Land ein Schwein geschlachtet wurde, kam die Familie zusammen. Vom Schwein selber landete nichts als Tiermehl im Tierfutter, das wurde von vorne bis hinten verarbeitet. Es gab sowas wie ein Verhältnis zum Lebewesen hinter dem Lebensmittel. Und darüberhinaus wirst Du als Mediziner sicher zustimmen, dass die eingeschränkte Verfügbarkeit von Fleischprodukten auch ohne den Vergleich zu den Antibiotikahühnerbrüsten ausm Kühlfach von heute zu einer alles in allem ausbalancierteren, gesünderen Ernährung beitrug.

Wann ist das eigentlich passiert, dass Fleisch vom kulinarischen Höhepunkt zu einer grundlegenden Basiskomponente der Ernährung wurde? Wie kam es dazu? Kam zuerst die Nachfrage nach mehr und mehr Fleisch, die erst die industrielle Fertigung bedingt hat? Oder schossen irgendwann Fleischfabriken und Massentierhöfe aus dem Boden und brachten ihre Ware in die Läden? Das muss doch alles einen Auslöser gehabt haben.


Hallo, dazu wollte ich gerne etwas schreiben. In der Geschichte der Ernährungskultur gibt es den Begriff der "europäischen Proteinkrise". Und diese endete im deutschen Raum eigentlich erst nach dem 2. Weltkrieg. Was du beschreibst ist kein Ausdruck einer kulturellen Leistung, sondern die Auswirkung einer Krise die mit dem Ende des Spätmittelalters begann. Im Hoch- und Spätmittelalter lag der Fleischverbrauch (inkl. Fisch) bei mind. 40 bis 100 Kilo pro Kopf und Jahr. In den meisten Regionen des Reiches eher 100 Kilo oder mehr. Durch viele Kriege, Krisen und ökonomische / technologische Veränderungen ging dieser Wert nach 1500 dramatisch zurück. Der Fleischverbrauch selbst ging erst auf ca. 25 Kilo zurück und hat im Reichsgebiet seinen dokumentierten Tiefpunkt mit 13,6 Kilo im Jahr 1816. Diese Mangel- und Unterernährung versuchte man im Jahrhundert der Industrialisierung durch neuartige industrialisierte Ernährung auszugleichen. Was in Deutschland zur Folge hatte, dass der Zuckerkonsum bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts bei über 27 Kilo pro Kopf lag. Das ist nicht viel weniger als heute (34 Kilo) und diente zum Ausgleich des notorischen Kalorienmangels. Erst nach dem zweiten Weltkrieg erreichten die Deutschen erstmals seit dem Mittelalter wieder über 70 Kilo Fleischkonsum im Jahr und die europäische Proteinkrise fand nach 400-500 Jahren ein Ende. Natürlich ist die heutige Massentierhaltung und Ernährungsindustrie ein Verbrechen gegen die Natur, aber man sollte auch nicht romantisierend in die Vergangenheit schauen. Die damaligen Essgewohnheiten sind Ausdruck einer Mangelkultur und nicht etwa eines ökologischen Bewußtseins oder eines irgendwie gearteten Gleichgewichts mit der Natur. Im Gegenteil, der zunehmende Anbau von Weizen (später auch Kartoffeln) führte zu ersten agrarischen Monokulturen, entdiversifizierte eine robuste und vielfältige Essenskultur, denn die Weizenfelder verdrängten Teichkulturen und Weideflächen, und machte das frühmoderne Europa extrem anfällig für Klimaschwankungen, was wiederum zu Millionen von Toten durch Hungersnöte und Mangelernährung führte.


Antworten auf diesen Eintrag:



gesamter Thread:


1233934 Einträge in 13687 Threads, 13784 registrierte Benutzer Forumszeit: 27.04.2024, 08:11
RSS Einträge  RSS Threads | Kontakt | Impressum | Nutzungsbedingungen | Datenschutzerklärung | Forumsregeln