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Der stille Tod in den Vororten von Paris/USA (Corona)

TrainerFuxx, Cosmopolit, Samstag, 11.04.2020, 22:46 (vor 2083 Tagen) @ Will Kane

Zu deinem Frankreich-Bericht ein passender Artikel im Spiegel

https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-in-den-vororten-von-paris-der-stille-tod-a-453395a0-3428-4743-808e-c7f602123f82

"Es war der nationale Gesundheitsdirektor Jérôme Salomon, der die Zahl als Erster nannte. In seinem allabendlichen Livereport zur Coronakrise sprach er vergangene Woche von einer "erstaunlichen Mortalitätsrate" im Département Seine-Saint-Denis. In der letzten Märzwoche seien dort 63 Prozent mehr Menschen gestorben als in der Woche zuvor; das sind fast dreißig Prozent mehr als im nationalen Durchschnitt des Landes. Dabei leben im Département außergewöhnlich viel junge Franzosen: fast ein Drittel ist unter 20 Jahre alt."

"Das Département 93 zählt nicht erst seit Ausbruch des Coronavirus zur Problemzone Frankreichs. Wer besichtigen möchte, was die Republik an sozialen Ungerechtigkeiten zu bieten hat, der sollte hierherfahren. Dorthin, wo sich noch immer Betonburgen aneinanderreihen, wo siebenköpfige Familien auf 50 Quadratmetern zusammenleben und noch weniger Intensivbetten in den Krankenhäusern stehen als im Rest des Landes."

Die Krise legt auch in Frankreich wie fast überall all die Ungleichheiten offen


Macron hat bei seinem Besuch neulich in einem Hospital in diesem Département die Armut angesprochen, die dort allgegenwärtig ist.

Gleichzeitig entzieht sich dieser Moloch (anders kann ich es kaum nennen) auch teilweise vollends dem staatlichen Eingreifen. Niemand weiß so ganz genau, wieviel Menschen in diesen Wohnblöcken leben. Das liegt vor allem an Vermietern, die ‚Illegale‘ zu mehreren Personen in den kleinen Wohnungen in einem Zimmer hausen lassen. Diese verdingen sich jeden Morgen in der Früh für 30 € am Tag für Arbeiten auf dem Bau oder ähnliche Tätigkeiten. Für diese Wohnungen/Zimmer werden dann horrende Mieten verlangt. Diese Viertel werden zudem von kriminellen Banden beherrscht, da gibt es für die Behörden keinen Zugriff. Zu leiden haben diejenige unter den Verhältnissen, die eben nicht den ‚einfachen Weg‘ gehen wollen, sich ehrbar verhalten und gewissenhaft einer oftmals nicht sehr angesehenen Arbeit nachgehen und dann auch noch wegen ihrer Wohnadresse diskriminiert werden. Und das ist die Mehrheit.

Für das andere sehr stark betroffene Département Haut-Rhin im Elsass gilt diese Korrelation Armut/beengte Wohnverhältnisse übrigens nicht, auch nicht für die ebenfalls stärker betroffene Bourgogne.


Ein Argument welches hier mMn oft zu kurz kommt:
Neben den ganzen Ungerechtigkeiten wie Bildung, Rassismus,Krankenversicherung, Lebensstil...
Kommt sicherlich auch in Frankreich wie in den USA dazu, da gerade in den Berufen an der aktuellen Front viele Personen aus eben den benachteiligten Schichten arbeiten.
In den USA sind es oft schwarze und Latinos die in dem Niedriglohnsektor Homecare und Pflege, Verkauf, Security usw
arbeiten.
Der Wohnort in der engen Innenstadt kommt auch noch dazu(USA).


Die gesamte Thematik ist zumindest hinsichtlich der französischen Verhältnisse sehr komplex und lässt sich nicht auf einen einfachen Kausalzusammenhang reduzieren.

So haben alle Franzosen im Gegensatz zu den USA wie in Deutschland auch den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die Basisversorgung ist nicht zu vergleichen. Eine Mangelsituation herrscht in Frankreich in den sog. ‚medizinischen Wüsten‘, womit der teilweise dramatische Ärztemangel in ländlichen Regionen gemeint ist.

Dass es in Frankreich viel zu wenig Intensivbetten und Beatmungsgeräte gibt/zu Beginn der Krise gegeben hat und dass der entsprechende Abbau an vorgehaltenem Material, Gerät und Personal in den letzten 10 - 20 Jahren ein entscheidender Grund für die teilweise katastrophale aktuelle Situation ist, ist evident. Dieser Mangel macht sich nicht nur im Département Seine-Saint-Denis bemerkbar, sondern überall dort, wo es Zentren der Coronavirusverbreitung gibt. Und diese sind hinsichtlich ihrer sozial-ökonomischen Struktur sehr unterschiedlich.

Bei allem, was man der Politik hinsichtlich des Abbaus gerade im Klinikbereich vorwerfen kann, so ganz unausgewogen wie mitunter suggeriert wird ist man dabei nicht vorgegangen. Die Rechnung ‚Anzahl Intensivbetten in Relation zur Anzahl an Einwohnern‘ und daraus Rückschlüsse zu ziehen, wäre sehr verkürzt. Man hat, und das muss man zugestehen, schon geschaut, wie die Belegung der Intensivbetten in den letzten Jahren/Jahrzehnten war und wie die Altersstruktur aussieht. Je niedriger das Durchschnittsalter, desto eher geringer der Bedarf an Intensivbetten; je höher das Durchschnittsalter, desto höher ist dieser Bedarf. Herzinfarkte und andere anfallsartig auftretende Herzattacken, Schlaganfälle, etc. treten nun einmal im höheren Lebensalter deutlich häufiger auf als im jüngeren. Und In Seine-Saint-Denis ist die Bevölkerung im Schnitt sehr jung.

Ein sehr großes Problem in den banlieus sind in der Tat die äußerst beengten Wohnverhältnisse. Große Familien in viel zu kleinen Wohnungen. Und das in riesigen Wohnblöcken. Sehr viele Kinder und Jugendliche hängen auf den Straßen ab. Soziale Distanz gibt es zum einen durch diese Wohnverhältnisse nicht und entspricht auch nicht den Gepflogenheiten der meisten Bewohner. Große Familien, große Cliquen, große Gangs. Dazu Enge in der Metro, in den Bars. Es gibt auch gerade unter Jugendlichen eine starke Gegenkultur, die sich bewusst gegen das stellt, was der Staat erwartet oder die Gesellschaft außerhalb dieser Welt als Normen vorgibt. Kriminalität und Gewalt sind nur ein Ausdruck davon. Es waren gerade diese ‚sensiblen Viertel‘, in denen Bars entgegen den Bestimmungen des confinements weiterhin geöffnet hatten, auf den Straßen großen Gruppen zusammenstanden und Polizisten bei Kontrollen z.T. hart attackiert wurden. Dass ein Virus, der von jungen Leuten von der Straße in die Wohnungen gebracht wurde, dann Eltern und Großeltern infiziert und somit eine fatale Kettenreaktion auslöst, sollte nicht verwundern. Da werden die Intensivbetten sehr schnell mehr als knapp.

Betrachtet man die Opferzahlen, dann springt eines sofort ins Auge: Ein gutes Drittel aller Opfer sind Bewohner von Alten-/Pflegeheimen. Eine Gruppe relativ hilfloser Menschen, die definitiv nicht geschützt wurden. Das ist der eigentliche Skandal. Den die Politik allem Anschein nach ein wenig kleinzuhalten versucht, der in der Bevölkerung allerdings gärt.

(auf den letzten Absatz bezogen)
Ich habe jetzt vermehrt aus USA, UK und Japan Kritik an der WHO und ihrer Sinophilie gehört. Ob diese berechtigt ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen.
Jedoch fällt mir sofort auf, daß eventuelle eigene Versäumnisse damit kaschiert werden sollen in Ländern, wo gerade nicht so professionell mit dem Thema umgegangen wurde.

Wie in Frankreich mit Kritik am System umgegangen wird, kann ich nicht einschätzen.

Dass der Franzose aber schneller auf den Barrikaden ist als sein deutscher Nachbar, Dankeschön dafür.
Was wäre Europa ohne
Liberté, Égalité, Fraternité.

Und um ehrlich zu sein, habe ich mich gerade in der Quarantäne auch der Franzosen bedient.

Mit livesets aus "le Mellotron"
Es war beruhigende Musik und zusätzlich einfach nur schön, das normale Treiben im Pariser Straßenbild zu sehen.

youtu.be/Ijr5tcSQHuE

Dankeschön für deinen umfassenden Bericht.

Bleib gesund und achtsam.
Frohe Ostern.


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