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Kleiner Erlebnisbericht (Corona)

JaHe, Berlino, Donnerstag, 19.11.2020, 12:55 (vor 1865 Tagen) @ Ulrich

Ich habe mir die Demo gestern mal aus der Nähe angeschaut und eine Nacht darüber geschlafen. Die Nummer war schon sehr emotional, also falls ein paar Fomulierungen etwas überspitzt werden, sehts mir nach.

Es war schon so eine Art Katastrophentourismus, aber wenn man in Berlin wohnt, dachte ich mir, ich schau mir die Leute mal aus der Nähe an. Ich bin rund ums ARD Hauptstadtstudio, Jakob-Kaiser-Haus, Unter den Linden und dann über die Rückseite des Adlon zum Brandenburger Tor.

Bisher hatte ich gelesen, dass es eine krude Durchmischung vieler Gruppierungen sei und das kann ich wirklich komplett bestätigen. Ich habe Bilder gemacht, vom Mann mit einem "KRL MRX" Pulli, der neben dem Reichsbürger stand (Schild mit langer Erklärung, dass die BRD nicht bestehe, sondern das Deutsche Reich), neben den Esoterikern und Menschen mit LGBTQ-Fahnen.
Auffallend: Extrem viele Ü50 Leute, Männer zwischen 30 und 50, weiß, Paare, vor allem aber auch (sehr) viele Frauen-Gruppen. Dazwischen wirklich knallharte Hools, schwarz-vermummt.

Die Stimmung vor dem Brandenburger Tor glich einem Volksfest, es wurde gejubelt, Party gemacht. Sehr an sich selbst berauscht. Hin und wieder mal ausschweifende BUH-Rufe, wenn irgendwo die Namen Merkel oder Drosten gefallen sind. An der Ecke zum Tiergarten aber auch ein 20 Mann Trupp Männer, 20-35, schwarz-vermummt. Schienen die Party für die anderen nicht zu stören.

Auf dem Weg sind mir auch viele, viele Familien mit Kindern aufgefallen. Die Berichte, dass Kinder also in die vorderste Reihe gezogen wurden, kann ich absolut nachvollziehen. Das hat mich wirklich schockiert, wie die in den Pulk reingezogen wurden.

Am ARD-Hauptstadtstudio dann eine etwas andere, deutlich aggressivere Stimmung. Sprechchöre, die in "Sieg Heil"-Manier abgezogen wurden - auch wenn ich den Inhalt nicht verstehen konnte. Von weiter hinten (wo ich stand, wurde gejubelt.) Ich stand relativ fassungslos mit meinem Fahrrad da, was wohl auch von zwei Teilnehmerinnen (ca. 60) bemerkt wurde, die mich dann angesprochen haben. Laut eigenen Aussagen: Krankenpflegerinnen, Jena, Intensivstation. Credo: Bei uns liegen nur 4 Leute auf der Intensiv, insgesamt 8 gestorben: Warum das ganze? (Seltsam auch, dass plötzlich so viele von denen im Medezinsektor tätig sind.)Auch: Man habe in der DDR gelebt, der BRD vertraue man nicht. Es wär das gleiche und wir auf dem Weg in die Diktatur. Auf meine Frage, ob sie denken würde, wenn in den 1970ern in der DDR eine solche Demonstration stattgefunden hätte, sie unbeschadet ohne Konsequenzen hätte nach Hause gehen können, wusste sie keine Antwort. Mein Nachhaken, dass sie sogar die Gerichte anrufen könne, wenn was passiere, und ob es das in der DDR auch gegen hätte, wusste sie keine Antwort. Was dann passiert ist: Ein Zurückfallen in Argumentationsmuster: Die da oben, Ermächtigungsgesetz. Ich glaube den beiden sogar, dass sie gutes im Sinn haben. Sie haben mehrfach gesagt, dass sie für die Jugend auf die Straße gehen, für die Demokratie. Dabei sehen sie aber nicht, dass sie völlig fehlgelenkt sind und genau das Gegenteil bewirken und Anti-demokratischen Kräften Aufwind geben

Es war also mühseelig. Ich denke, diese unterschiedlichen Gruppen einen zwei Dinge: Ein tief tief tiefsitzendes Misstrauen bzw Abneigung gegenüber demokratischen Strukturen und der Gesellschaft und fehlende Medienkompetenz.

Das ist jetzt pauschalisierend, aber ich versuche es mal zusammenzufassen:
Die Gruppe Ü50, weiß, ostdeutsch hegt grundsätzlich misstrauen gegen staatliche Strukturen (Vermutlich auch Nachvollziehbar, schaut man sich die DDR und die Wendejahre an). Die Esoteriker sehen sich nicht als Teil dieser Gesellschaft sondern begründen ihr Dasein mit nicht-weltlichen Argumenten. Der (kleinere) linksextreme und der (deutlich präsentere) rechtsextreme Rand unterwandert die Bewegung für ihre Zwecke. Und natürlich die (zum Glück) in Deutschland insgesamt deutlich geringe Anzahl an Hardcore-Gläubigen.

Dazu kommen dann die Leute (und das ist glaub ich entscheidend), die sich nicht distanzieren. Auf meine Frage, was sie denn dazu sage, dass hier neben Nazis demonstriert werde kam nur ein: "Wir haben die Demo ja angemeldet, da können wir nichts für, dass die Nazis dann auch kommen". Keine Distanzierung, kein Aktionen dagegen, einfach nur ein Hinnehmen. Mitläufertum.

Es fehlt an einem Einstehen dieser Bevölkerungsgruppen für die Demokratie und an Medienkoptenz (Das Thema Facebook, Telegram) lass mich mal aussen vor. Dazu hab ich einen Tweet gelesen, der es schön zusammenfasst:

"Facebook and Telegram are doing to our parents, what they thought video Games would do to us."

Mein Fazit: Die Mühe, diese Personen in die Gesellschaft zurückzuholen ist woanders besser aufgehoben. Bildungs- und Sozialarbeit. Demokratieförderung. Exit Deutschland etc.etc..

PS: Das soll kein Text gegen Demonstrationen oder für das IfSG sein. Demos und Streit sollen und müssen in einer Demokratie möglich sein. Aber den Personen da draussen ging es nicht überwiegend um sachliche Teilhabe an der Demokratie, sondern um radikales Durchsetzen ihrer Demokratiefeindlichkeit. Leider übertönt das die berechtigten Argumente der Wenigen.


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