Du bist ja Werder-Experte und kannst das alles besser einschätzen.
Na ja, ‚Experte‘ ist so eine Sache. Mich verbindet da halt nach wie vor so einiges. Und ich mag den Club an sich nach wie vor. Aber das ist mehr so etwas persönliches. Wenn ich nicht qua Geburt BVB-Anhänger bis zu meinem irgendwann erfolgenden Ableben wäre, dann hätte Werder gute Karten mein ‚gewählter’ Lieblingsclub zu sein.
Aus dem fernen Dortmund finde ich den Werder-Kader einfach desaströs schlecht. Leo Bittencourt ist da absoluter Leistungsträger, dazu ist man abhängig von dem Dauerverletzten Niklas Füllkrug. Werder spielt jetzt seit Jahren gegen den Abstieg, irgendwann geht das nicht mehr gut. Sie hätten ja schon letzte Saison absteigen müssen und ohne Covid Pause wäre es auch soweit gewesen. Ein weiterer Traditionsklub, der keine gute Gegenwart und Zukunft hat.
So weit ist Dortmund gar nicht von Bremen entfernt. Zu Zeiten, als die A1 zwischen Dortmund und Bremen weder Baustellen, noch Geschwindigkeitsbegrenzungen kannte, war man da flott in der jeweils anderen Stadt. Ist aber lange her.
Was den Abstieg Werders vom regelmäßigen CL-Teilnehmer und Titelanwärter zum Abstiegskandidaten anbelangt, so ist dies eine komplexere Geschichte. Die Fehler wurden bereits zu Erfolgszeiten gemacht und vieles, was sich dann anschloss, war die logische Konsequenz daraus. Dennoch finde ich, dass Werder die Konsolidierungsphase (unter Eichin) recht gut hinbekommen hat. Insbesondere, weil man in dieser Phase die Klasse immer halten konnte und keine neuen Verbindlichkeiten aufnehmen musste.
Als man dann wieder operativ Gewinne machte (und Eichin gehen musste und Baumann ihm nachfolgte), sahen die Perspektiven wieder gar nicht so schlecht aus. Man durfte mit vorsichtigem Optimismus durchaus wieder an eine Entwicklung des Teams in Richtung obere Tabellenhälfte, vielleicht sogar mit etwas Glück Erreichen eines EL-Platzes denken. Und in der Tat waren die Transfers Baumanns (zwar mit kleinem, aber wieder vorhandenem Geld) in seiner Anfangsphase respektabel und brachten das Team auch weiter. Man denke nur z.B. an Delaney. Man nahm durch Transfers auch wieder mehr Geld ein, das in Spielerverpflichtungen reinvestiert werden konnte.
Und dann war es plötzlich wie abgerissen. Statt wie bislang (auch) Spieler zu verpflichten, von denen man nach guten Leistungen einen Gewinn beim Wiederverkauf erwarten konnte und sich auf jüngere (und günstigere) Spieler zu fokussieren, wurden (teure) ‚Altstars‘ und Spieler teuer verpflichtet oder mit teuren Kaufverpflichtungen geliehen, die woanders kein Bein auf die Erde gebracht haben. Wobei die wichtigsten ‚Kaderbaustellen‘ gar nicht angegangen wurden. Was zum größten Teil den von Dir angemerkten unausgewogenen und qualitativ sehr unterdurchschnittlichen Kader erklärt.
Dass man bei Werder quasi von heute auf morgen diese Änderung in der Transferpolitik vollzogen hat, dürfte eng mit dem Wechsel des bis dato sehr geschickt auf dem Transfermarkt agierenden Chefscout Tim Steidten zu Leverkusen zusammenhängen. Seitdem läuft bei Werder hinsichtlich der Transfers ziemlich viel verkehrt.
Überhaupt ersetzt man bei Werder zu oft gutes Personal, wenn dieses den Club verlässt, mit mäßig qualifiziertem Personal, was allerdings den in Bremen beliebten ‚Stallgeruch’ hat. Dies ist neben den seit längerer Zeit durchgängig auf mittlere Sicht jeweils unglücklichen Entscheidungen in der Trainerfrage für mich entscheidend für die aktuelle Krise, die auch eine strukturelle Krise ist.
Werder hätte mMn das Zeug gehabt, zu einer Art ‚Freiburg des Nordens‘ zu werden. Wenn man es denn gewollt hätte und einen entsprechenden Plan gehabt hätte. Jetzt sieht die Perspektive einfach nur schlecht aus.
Es gibt nicht wenige bei Werder und im Umfeld, die sich einen Neustart mit einem Trainer wie Favre wünschen. Ob dies realistisch ist, dürfte eine andere Frage sein.