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9-11 (Sonstiges)

Andypsilon, Samstag, 11.09.2021, 14:14 (vor 957 Tagen) @ Rupo

Ich war damals Waffentechnikmaat bei der Marine, zu der Zeit war unser Schiff Teil einer Stanav (Standingnavalforce), ich glaube, es war die Stanavforlant (Atlantik). Da mein Gedächtnis immer mehr zu Mus wird mag ich mich hier und da um Tage oder Stunden irren, die grundsätzlichen Geschehnisse habe ich aber natürlich immer noch ziemlich genau im Kopf.

So ein Stanav-Verband bestand damals, wie wahrscheinlich heute auch, aus mehreren Einheiten verschiedener Länder, die in diesem Rahmen verschiedene Übungsszenarien durchgehen und grundsätzliche Nato-Präsenz im entsprechenden Seegebiet zeigen.
So ein, zwei Tage vor den Anschlägen lagen wir mit dem Verband in einem englischen Hafen, ich glaube es war Plymouth und an diesem Abend fand auf dem teilnehmenden, amerikanischen Zerstörer für den gesamten Verband ein Beercall statt. Vertiefung internationaler Beziehungen sagen die Einen, grillen und saufi machen die Anderen. Und beides stimmt irgendwie ;).
Alle hatten wie immer bei diesen Festen eine Menge Spaß, ich habe an diesem Abend eine, ich glaube sie war Funkerin, kennen gelernt die aus New York kam und wir hatten uns auch tatsächlich über das WTC unterhalten weil ich etwa 3 Jahre vorher selbst sightseeing-mäßig auf dem Gebäude stand und entweder ihr Vater oder Onkel dort arbeitete.

9/11 waren wir mit dem Verband wieder in See. Um Das Ganze mal so ein bisschen technisch einzuordnen: heutzutage sind solche Geschichten wie Internet an Bord kein Problem, damals sah es schon ein wenig anders aus, das Schiff, auf dem ich gefahren bin war da schon über 30 Jahre alt und auch was solche Belange angeht aus der Zeit gefallen.
So kamen die ersten Meldungen über das, was da in NY passierte, via Funk rein und wenn ich mich recht erinnere war davon die Rede, das über NY Kampfflugzeuge im Einsatz sind die die Stadt angreifen. Dann hieß es, ein Flugzeug sei ins WTC verünglückt.
Sowas wie TV-Empfang gab es auf See eigentlich auch nicht... „eigentlich.“ Wir hatten ziemlich leistungsstarke Feuerleitradare an Bord und mit diesen war es dann eben doch möglich, Satelliten anzuzapfen und ein live-Bild ins Bord-TV-Netz einzuspeisen (was hier und da bei Fußi-Übertragungen ganz geil war, so konnte ich auf See das Bayern CL-Desaster gegen ManU und das WM-Finale 2002 sehen).

Ich glaube in dem Moment, als die Übertragung stand krachte der 2te Flieger ins WTC und dann wurde nach und nach klar, was da gerade in den USA passiert.
Der Schock war natürlich gigantisch. Ein durchaus nicht geringer Teil an Zeit-und Berufssoldaten an Bord hatte, wie ich auch, Systemlehrgänge (Waffensystem, Radar...usw.) an Militäreinrichtungen in den USA absolviert, möglicherweise hat diese zusätzliche Bindung die Emotionen nochmal weiter hochgejazzt. Ich für meinen Teil kann ehrlich sagen, dass ich eine Menge Gedanken und Gefühle hatte auf die ich bis heute nicht stolz bin und für die ich mich immer noch schäme. Allerdings hat mich diese Erfahrung auch gelehrt, nicht gleich den Stab über jemanden zu brechen nur weil er mal was richtig dummes sagt, oft lohnt es sich, vielleicht nochmal genauer hinzuschauen, woher diese Meinung kommt, wo sie ihren Ursprung hat und eine Tür für Veränderung offen zu lassen.

Am nächsten oder übernächsten Tag hat sich der amerikanische Zerstörer vorzeitig aus dem Verband verabschiedet. Es wurde ein Sailpast gemacht, eine Tradition, bei der die Schiffe hintereinander fahren und das zu verabschiedende Schiff einmal längs vorbei fährt. Wir hatten zu diesem Anlass ein Transparent (okay, ein altes Bettlaken) mit der Aufschrift „we stand by you“) präsentiert. Eine Aktion, die in den USA ziemlich hohe Wellen schlug, später wurde eine Delegation unseres Schiffes ins Capitol eingeladen und dort wurde unserem Kommandanten die Fahne überreicht, die am Tag der Anschläge auf dem Repräsentantenhaus gehisst war.

Wie es für uns direkt im Anschluss weiter ging weiß ich gar nicht mehr so genau, ich glaube, wir haben den Einsatz wie geplant zu Ende gebracht. Aber grundsätzlich hat sich eine Menge geändert, in Auslandshäfen z.B. wurde nicht mehr nur die übliche Wache an der Stelling gestellt, sondern auch seeseitig bewaffnete Wachen. Auch die Ansprachen haben sich geändert, vorher wurde z.B. bei der Einlaufmusterung eher so darauf hingewiesen, welche Lokalitäten und Viertel man unbedingt meiden müsse (was dann exakt die lokale Infrastruktur war, in der man zu vorgerückter Stunde die meisten Nasen wieder fand), danach wurde mehr über terroristische Gefahrenlagen und so gesprochen. Nur zwei kleine Beispiele von vielen.
Vom persönlichen empfinden her kann ich mich ziemlich gut daran erinnern, dass es nicht unbedingt eine Angst war, die sich in mir gesteigert hat, aber ein durchaus nochmal gesteigertes Gefühl der Unsicherheit. „nochmal gesteigert“ deswegen, weil mir etwa ein Jahr vor 9/11 durch den Anschlag auf die USS Cole im Golf von Aden ziemlich deutlich klar wurde, wie naiv das Gefühl von Sicherheit auf einem so großen Kriegsschiff dann doch im Endeffekt ist. Damals lagen wir im Hafen von Norfolk und an dem Tag waren wir mit dem Waffentechnikabschnitt zur Besichtigung auf einem Flugzeugträger, der USS Theodore Roosevelt. Während der Besichtigung kamen die Meldungen und ersten Bilder von dem Anschlag rein und wir mussten natürlich sofort das Schiff verlassen. So eine große Kampfmaschine wie die Cole von einem kleinen Bötchen fast ausser Dienst gebombt.... zuviel für mein, von der Wand bis zur Tapete denkendes, Gehirn.
Wie gesagt, 9/11 hat dieses, damals schon keimende, Gefühl der Unsicherheit nochmal ordentlich potenziert.

Was mir auch erst später bewusst wurde war, wie schlimm und angstbehaftet die Situation für meine Familie und Freunde war. Wie erwähnt gab es damals noch wenig an Kommunikationsmöglichkeit, erst die Tage noch hat meine Mutter wieder erzählt wieviel Angst sie damals um mich hatte, Sohn auf einem Kriegsschiff in einem Nato-Verband, man bekommt keine Informationen, keiner weiß so richtig wie es weiter geht, gefühlte Terrorgefahr allewo. Klingt jetzt zwar sehr dramatisch, aber hey, so war es damals halt: nichts hat sich bis dahin so gut angefühlt wie nach dem Einlaufen im Heimathafen meine damalige Freundin und später meine Mutter im Arm zu halten.

Meine Meinung zu den Anschlägen ist deutlich, nämlich die, dass es aus der Sicht der Terroristen ein „Erfolg“ auf ganzer Linie war. Ob es 500, 3000 oder 10000 Opfer gab ist da, so pervers es auch klingen mag, egal. Die Bilder, die erzeugt wurden, die Tatsache, dass es möglich war mit vergleichsweise simplen Mitteln die Supermacht schlechthin derart zu treffen hat das Land und seine Menschen und die Art, wie sie den Rest der Welt wahrnehmen, nachhaltig verändert. Und zwar so, wie man es sich als Terrorist, der sowas plant, nur wünschen kann. Mit meiner Meinung nach weiterhin nicht absehbaren Konsequenzen, wenn man sich alleine nur den clusterfuck anschaut, der in Afghanistan entstanden ist. Ein Einsatz als Konsequenz von 9/11, es wird in ein Land einmarschiert mit der Idee, Terroristen zu fangen, Terrorgefahr abzuwenden und in Teilen der Bevölkerung Hoffnungen auf bis dahin ungekannte Freiheiten zu schüren. Und 20 Jahre später so yolo, war doch nix tschüß. Und überlässt sehr viele Menschen, die wirklich daran geglaubt haben und dafür gekämpft und gearbeitet haben, sich selbst und vor allem denen, deren Ideologie sie entsagt haben. Wäre es wirklich überraschend, wenn in, was weiß ich, 10 oder 20 Jahren, von genau dort und von genau diesen Menschen, die so verraten wurden, gegen die, die sie verraten haben, neue Gewalt ausgeübt wird? Nicht wirklich. Und wäre es wirklich überraschend, wenn auch dann wieder so reagiert wird, wie reagiert wurde? Dito.


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